In der Vorbereitung für den heutigen Abend hatten wir Redner uns an eine Regel zu halten, an deren strikter Geltung schon die Formulierung keinen Zweifel liess. In der entsprechenden Informations-eMail stand unter der Überschrift Regel:

„Eine Tischrede dauert 10 Minuten.“ Ich weiss nicht, wie es meinen Rednerkollegen ging. Ich jedenfalls habe sofort verstanden, dass damit gemeint war: Du sollst nicht länger als 10 Minuten reden.

Tatsächlich kann man die Regel aber auch anders verstehen. Wenn gilt, dass eine Tischrede 10 Minuten dauert, dann gilt nicht nur das Verbot, länger als 10 Minuten zu reden, sondern auch die Erlaubnis, sich nach 10 Minuten endlich wieder setzen zu dürfen. Und es gilt das Gebot, dass man 10 Minuten lang was sagen und d.h. wenn möglich was zu sagen haben sollte.

An der Tischredenregel, den Erlaubnissen, Geboten und Verboten, die sich aus ihr ergeben, zeigt sich so, was für alles gilt, was gilt: Das, was gilt, schränkt den Bereich unserer Freiheit ein. Und das war nicht nur für Pubertierende schon immer ein Grund, das vermeintlich Geltende in seiner Geltung und damit die Autorität derer, die die Regeln gemacht haben, in Frage zu stellen.

Keine Angst – darauf bin ich heute abend nicht aus. Ich werde mich nach Kräften bemühen, mich an die Tischredenregel zu halten. Die Vorbemerkungen dienen eher der Überleitung zum eigentlichen Thema meiner Rede, die sich mit der Frage beschäftigt: Wann gilt was, und was gilt wann in der Moral.

Deren Regeln kamen nämlich lange Zeit ganz ähnlich daher wie die Tischredenregel. Da hiess es dann etwa:

„Zu lügen ist moralisch verwerflich.“ Und daraus ergab sich mehr oder weniger direkt das Gebot, die Wahrheit zu sagen, bzw. das Verbot, die Unwahrheit zu sprechen. Und wie bei der Tischredenregel verdankte sich die Geltung des Satzes: „Zu lügen ist moralisch verwerflich“ der Autorität dessen, der ihn verkündet hatte; das hiess in diesem Fall: der Autorität eines in Sachen Gut und Böse zweifellos kompetenten Gottes.

 

Nun wissen Sie alle, dass die irgendwann im Lauf der Geschichte einen Knacks bekommen hat. Die bescheideneren Skeptiker fragten sich, ob sie Gottes Absichten und Einsichten wohl richtig verstanden hatten; ob mit anderen Worten Gott wirklich der Meinung war, dass zu lügen in jedem Fall moralisch verwerflich sei. Die radikaleren stellten Gottes Kompetenz in Sachen gut und böse in grundsätzlicher Weise in Frage – immerhin hat der Ausschwitz zugelassen – und manche gingen sogar so weit, nicht nur zu fragen, ob es diesen Gott überhaupt gibt, sondern schlichtweg zu behaupten, er sei eine blosse Erfindung von denen, die ihren höchst eigenen und höchsteigennützigen Regeln mehr Geltung verschaffen wollten.

 

Und wie das so oft ist mit dem Zweifel: Er hat seine eigene Gewissheit. Ist er erst einmal laut geworden, scheint er bald das einzig unbezweifelbare. Etwas jedenfalls, bleibt immer hängen. Gottes Ruf in Sachen moralische Autorität hat in den letzten Jahrhunderten spürbar gelitten. Anders ist es jedenfalls kaum zu erklären, dass sich so mancher Staat fürstlich bezahlte Angestellte leistet, die hauptberuflich darüber nachdenken, wann was gilt und was wann gilt in der Moral. Die nennen sich Professoren für Moralphilosophie und haben einen harten Job. Nicht nur, weil die meisten von ihnen früher oder später und manche noch posthum erkennen müssen, dass ihre Bücher die Auflage der Bibel wohl nicht erreichen werden, sondern auch und vor allem, weil die Probleme, mit denen sie zu kämpfen haben, kaum lösbar scheinen. Das Problem ist dabei nicht, dass man auf die Frage „Was gilt?“ in der Moral keine Antwort fand. Das Problem war schon bald eher, dass es so viele verschiedene, einander widersprechende Antworten gibt, und dass auch bei genauer Prüfung mehr als eine von ihnen ganz plausibel scheint. Wer hat nun Recht? Und wie kann man rausfinden, wer Recht hat, wenn denn einer Recht hat?

 

Wäre die Philosophie eine genuin Schweizer Disziplin, dann wäre man vielleicht versucht, die verschiedenen Vorschläge in die Vernehmlassung zu geben und am Ende abstimmen zu lassen. Das Ergebnis dieser Abstimmung wäre dann für alle verbindlich, es wäre das, was gilt. Solche Vorschläge hat es in der Moralphilosophie tatsächlich gegeben, und sie sind nach wie vor nicht unbeliebt. Man stellt sich einen idealen Diskurs vor, der bestimmten Regeln folgt – zugegeben, die Bedingungen sind leicht verändert gegenüber der Schweizer Situation – an dem alle die von den zu beschliessenden Regeln, den moralischen Grundentscheidungen betroffen sein werden, teilnehmen, ihre Meinung sagen und ihre Bedenken äussern können. Am Ende, so jedenfalls die Theorie, führt der zwanglose Zwang des besseren Argumentes zu einem Ergebnis, das für alle verbindlich ist, das für alle gilt.

Nun gibt es jedoch mindestens ein Problem, denn dieser Diskurs kann niemals ein Ende haben. Denn wenn es eine Bedingung ist, dass nur die Regeln gelten, an deren Zustandekommen alle beteiligt waren, die von ihnen betroffen sind, dann muss man das Verfahren mit jedem neu geborenen Kind neu aufrollen. Und was noch in der Vernehmlassung ist, von dem kann man noch nicht sagen, dass es gilt. Aber was gilt in der Zwischenzeit? Schlimmer noch: Woher haben die Diskursregeln selbst ihre Geltung? Wieso gilt, dass nur das gilt, was das Ergebnis eines solchen Diskurses ist? Mit anderen Worten: In welchem Vernehmlassungsverfahren wird über die Regeln entschieden, die im Vernehmlassungsverfahren des Vernehmlassungsverfahrens gelten?

Nun ist die Diskursethik nur ein Vorschlag, wie man mit der moraltheoretischen und moralischen Meinungsvielfalt umgehen und herausfinden kann, was gilt. Es gibt andere, die ich hier nicht im einzelnen schildere, weil sie eine wesentliche Gemeinsamkeit teilen, mit dem soeben kurz skizzierten Vorschlag des moralphilosophischen Vernehmlassungsverfahrens: Keiner von ihnen kann am Ende wirklich überzeugen. Entweder sind sie nicht praktikabel, oder sie führen zu keinem Ergebnis, ja manche von ihnen haben – wenn auch unter anderem Namen: er nennt sich jetzt Vernunft - vor lauter Verzweiflung gar jenen Gott wieder eingeführt, dessen zweifelhafte Kompetenz oder Existenz das ganze Problem erst hat entstehen lassen.

 

In dieser Situation haben ein paar mehr oder weniger pfiffige Köpfe eine Lösung des Problems vorgeschlagen, für die es keinen besseren Präsentationsrahmen geben könnte, als den eines solchen Abends. Ihr Vorschlag lautet in wenigen Worten: Es gibt nichts, was für alle gilt, weil alles nur für einen (manche) gilt, nämlich für den (die), der (die) von der Geltung der jeweiligen Regel überzeugt ist (sind).

Die Idee ist in etwa die folgende:

Wenn man die Wahl hat zwischen Kaninchenbraten und Rindswurst auf der einen und Pilzgerichten auf der anderen Seite, dann sollte man nicht hochbezahlte Professoren befragen, was zu wählen ist, und es braucht auch keinen herrschaftsfreien Diskurs. Alles was nötig ist, um die Entscheidung zu treffen, ist ein bisschen Erfahrung mit den eigenen Geschmacksnerven und ihrer Reaktion auf Kaninchenbraten einerseits und Pilzgerichte andererseits. Wenn die nur eine Wahl zulässt, nämlich den Kaninchenbraten, dann wähle man eben ihn. Und wenn der Tischnachbar zu einer anderen Entscheidung kommt, dann muss das nicht heissen, dass seine Geschmacksnerven nicht funktionieren und man ihn möglichst bald in ein gastronomisches Umerziehungslager verfrachten sollte – es könnte auch daran liegen, dass er schlicht andere Erfahrungen mit seinen Geschmacksnerven (oder eben mit Kaninchenbraten gemacht hat).

Über Moral, so die Moral von der Geschichte, lässt sich so wenig streiten, wie über Fragen des Geschmacks. Oder besser: Streiten lässt sich darüber trefflich, aber entscheiden lässt sich der Streit nicht. Denn ob Kaninchenbraten oder Pilze die bessere, die richtige Entscheidung ist, ob gilt, dass man Kaninchenbraten wählen sollte, hängt von den Geschmacksnerven und Erfahrungen desjenigen ab, der vor die Wahl gestellt ist, und eben nicht nur vom Kaninchenbraten. Hat man das erst einmal eingesehen, bleibt bestenfalls noch eine Maxime: Alles mal probieren, Erfahrungen machen, die eigenen Nerven schulen, damit man beim nächsten Tischreden-Event umso informiertere und damit richtiger Entscheidungen bei der Menuwahl treffen kann.

 

Was gilt in Sachen Moral gilt eben nur für mich und für die, die meine Erfahrungen teilen – es gilt genau dann, wenn meine moralischen Geschmacksnerven mir vor dem Hintergrund der gesammelten Erfahrung dazu raten – und es gilt genau das, wozu sie mir raten.

 

In der Moralphilosophie nennt sich, das sei der Ordnung halber noch gesagt, diese Position Relativismus, und es gibt Leute, die der Meinung sind, dass der Relativismus das ist, was gilt.

 

Warum diese Leute mit ziemlicher Sicherheit falsch liegen, kann ich leider nicht mehr erläutern – denn ich bin keine Relativistin und fühle mich darum verpflichtet, mich an die Tischredenregel zu halten, auch wenn sie meinen rhetorischen Geschmacksnerven nicht gefällt. Und diese Regel gebietet Schweigen nach 10 Minuten.

 

Vielen Dank!

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