I. Wer bei der Liebe - liebe Tischgenossinnen und -genossen - den Kopf verliert, hat seine Triebe nicht im Griff. Blind wird er dem Objekt nachrennen, dass ihm seine Begierden nur vorspiegeln, er wird nach dem geliebten Gegenstande tasten, aber daneben greifen und mit leeren Händen dastehen.
- Also wie der liebe Gott, als er aus Liebe Geschöpfe nach seinen Bilde schuf, die es jedoch bald miteinander zu bunt trieben und mehr aneinander Gefallen fanden als an ihrem Schöpfer?
- Ja, sie werden dastehen wie dieser alte Herr dastand: grenzenlos ohnmächtig und doch grenzenlos vernarrt in das Geliebte.
- Was tun?
- Den alten Herrn trieb es, dem Treiben auf Erden nicht mehr bloss zuzuschauen, sondern sich einzumischen. Also lieferte er seinen Lieblingen sein Allerliebstes aus, seinen Sohn. Und als seine Lieblinge sein Allerliebstes nicht liebten, sondern ans Kreuz nagelten, zeigte auch der alte Herr seine kalte Schulter und liess sein Allerliebstes hilflos schreiend sterben. Diese verzweifelte Passion des jungen Mannes sollte allen klar machen, was die göttliche Liebe fordert. Erst da, wo der oder die Liebende daran ist, alle Hoffnungen auf die Erfüllung seiner Hoffnungen fahren zu lassen, wo er nichts mehr will, wo er sich ganz aufgibt, da beginnt die göttliche Liebe. Der Trick des lieben Gottes machte Eindruck.
- Glaub ich nicht. Gott ist doch genau deshalb gestorben, weil seine Ansichten über die Liebe falsch und unmenschlich waren.
- Aber auch Isolde hat sich im Liebestod selbst aufgegeben!
- Nein! Isolde hat sich nicht aufgegeben, Isolde hat sich hingegeben: Sie wusste klar, was sie wollte. Sie wollte den Tristan und nicht nichts. Tristan war ihr Alles und sie wollte alles… nicht nichts.
- Dann versteckt sich für dich hinter der Maske des Nichts also die Sehnsucht nach Allem? Dann ist das Nichts nichts anderes als das gallengefärbte Hinterteil des All(e)s?
- Sag über das Nichts, was du willst. und alles kann man ihr zuschreiben. Diese menschenfreundlichen Worte hat Giordano Bruno gesagt und der hat im Jahr 2000, in dem er seinen vierhundersten Todestag feiert, Recht.
- Aber machst du es dir da nicht ein wenig zu einfach, wenn du sagst, die Liebe sei alles und wirke alles und man könne alles von ihr sagen? Hast du Augustin vergessen, den lieben, jungen, verliebten Augustin in den Strassen Karthagos? «Was war es anderes, was mich freute, als zu lieben und geliebt zu werden?», schreibt dieser grosse Kirchenvater immerhin.
«Aber», gibt er zu, «es blieb nicht bei der Weise von Seele zu Seele, wie es auf der lichten Strasse der Freundschaft ist, sondern Nebeldünste stiegen aus dem sumpfigen Gelüst des Fleisches und dem Strudel sich regender Mannbarkeit, und sie verwölkten und verdunkelten mein Herz, dass sich der heiter ruhige Glanz der Liebe nicht mehr unterscheiden liess von der Finsternis der Wollust. … Ich wälzte mich in meinen Unzüchten, ich ergoss mich darein, ich zerfloss und verschäumte.»
- Was soll diese erotische Geschätz? Hast du den Kopf verloren?
- Ich nicht. Augustin fühlte diese ungezügelten, leidenschaftlichen, heidnischen Triebe, die er dann mit seinem neuen Heilmittel bannte, indem er zwischen heidnischer und christlicher Liebe trennte. Die Liebe zu Gott mache die Menschen standhaft gegen die Wollust, sagte Augustin, und befreit sie von allen fleischlichen Gelüsten. Lass die libido sein, und die göttliche dilectio ist dein!
- Treib es nicht zu bunt, ja?!
- «Dilige, et quod vis fac!» Liebe, und tu was du willst! Wer seine Triebe in der Hand und den Kopf auf den Schultern behält, kann tun was er will.
- Ich höre Bruno lachen und frage dich: Ist es wirklich so einfach?


II. Tragödie

Der griechische König Pentheus regierte Theben mit Umsicht und Verstand, bis ein verwahrloster Säufer in die Stadt torkelte, den Frauen den Kopf verdrehte und sie aus den schützenden Mauern der Stadt auf den Berg Kithairon lockte. Pentheus erkannte sofort, dass dieses orgiastische Treiben beendet und wieder Ordnung geschaffen werden müsse. Er liess den Säufer kommen und versuchte ihm gut, d.h. vernünftig zuzureden. Als sich der Andere seinen Argumenten nicht beugen wollte, setzte er den unerwünschten Gast hinter Gitter. Doch Dionysos, so hiess der unmässige Säufer, liess sich so einfach nicht festnageln. Er konzentrierte sich kurz, gestaltete seine Gestalt um und entwischte. Pentheus - ganz der mächtige König - setzte ihm nach, lief zum Berge Kithairon, um mit eigenen Augen dem wilden Treiben zuzusehen. Doch der arme König fiel den Bacchantinnen unglücklich in die Hände, verlor den Verstand nicht nur, sondern auch den Kopf, den ihm - in blinder Raserei - die eigene Mutter vom Leib pflückte. (Liebe, treibst du was du willst.)
Wie müssen die Griechen den Wein geliebt haben, dass sie den Weingott trotz solcher Eskapaden und wiederholten Verstössen gegen das Betäubungsmittelgesetz in den Olymp hoben (…wenn auch als letzten Gott), seinen Kollegen Eros aber leer ausgehen liessen. Gewiss, böse Stimmen munkelten, Eros sei unzuverlässig. Aber war denn Dionysos zuverlässig, oder gar Zeus? Schade um Eros, denn er erwies sich als guter Schüler, als ihn Platon einlud und nach einem längeren Gelage unter Vertrag nahm. Zwar musste Eros während dieses Symposiums einiges über sich ergehen lassen. Nicht nur seine körperliche Spannkraft wurde genau unter die Lupe genommen, sondern auch intellektuell musste er einiges leisten, da ihn der alte, etwas schäbig gekleidete Hausfreund- bereits mehr Odem als saftiges Fleisch -, verschiedentlich die Himmelsleiter rauf und runter hetzte. Doch die Seelengymnastik im Hause Agathons gab seiner Karriere die erhoffte Dynamik: Eros befreite sich von seinem Image als ungeschicktem Pfeilbogenartist im Zirkusleben des Pöbels und wurde offizieller Gast in den philosophischen Denkstuben Europas, wo er die Gelehrten mit liebenstoller Hand dazu anhielt, der Wahrheit und nur der Wahrheit lüstern hinterher zu hecheln.
Das Geschäft mit dem Wahrheitstrieb blühte, die Gedanken spriessten ins Unendliche… bis Schwester Agape von christlicher Seite zum neuen Ideal aufgebaut wurde. Es war ein gewisser Paul, der sich gerne in spiegelnden dunklen Worten erging, dem sie ihren Ruhm zu verdanken hatte. Paul liess an den Vorzügen Agapes nicht den leisesten Zweifel: «Agape ist langmütig und freundlich», verkündete er, «sie eifert nicht, sie treibt nicht Mutwillen und bläht sich nicht auf. Agape verträgt alles, glaubt alles, hofft alles, duldet alles…» Wer hätte sie da nicht gegen Glaube und Hoffnung eingetauscht? «Agape», fuhr Paul fort, «freut sich an Ungerechtigkeiten nicht, freut sich aber an der Wahrheit.» Welch ein Schlag für Eros, der nun völlig zwischen die Stühle fiel: Hier ein Säufer und Triebtäter als olympischer Gott, dort die tugendhafte Agape als christliches Ideal! Ob ihn das Schicksal Pauls tröstete, ist nicht bekannt. Denn auch Paul, der Verehrer und Idealisator der Nächstenliebe, begegnete der nackten Realität. Er wurde im Jahre 64, als sich mit Nero eine missliche Wiedergeburt des Dionysos auf dem Kaiserstuhl suhlte, an der Strasse nach Ostia enthauptet.


III. Komödie

Agape erfreute sich einer langen Karriere, bis neue Zeiten anbrachen und die Menschen zwar weiterhin in den Kirchenstühlen die Passion Christi besangen, danach aber insbesondere in Frankreich sich liebend gerne mit den «passions d'amour» und anderen Galanterien beschäftigten. Eros, das lässt sich an den Pforten des 21. Jahrhunderts klar sagen, hielt den Philosophen auf die Länge nicht die Stange und kehrte auf verschlungenen Pfaden zum Pöbel zurück und es gelang ihm nach dem Tode Viktorias, die Liebe, dieses abgedroschene, und doch so machtvolle Wort, zu revolutionieren. Eros schob die vielen Hindernisse, die sich den Liebenden in den Weg stellten, beiseite und machte sie zum Wundermittel Nr. 1: «All you need is love», nicht ganz im Sinne der der empfindsamen Zeile: «Unser süssester Beruf ist das Glück der Liebe; Alles, was der Himmel schuf, fühlet ihre Triebe…».

Zum Schluss ein Fragezeichen: Wie konnte es in diesem Umfeld dazu kommen, dass ein systematischer Kopf wie Niklas Luhmann ein ganzes Buch über die «Liebe als Passion» schrieb?
Die Liebe interessiert Luhmann insofern, als die Liebe den Leuten die Möglichkeit eröffnete, sich aus den Zwängen der Gesellschaft zu befreien und Freiräume zur Entfaltung ihrer Individualität zu gewinnen. Nur hat sich die westliche Gesellschaft inzwischen soweit individualisiert und differenziert, dass es zwar möglich ist, sich mit allen im Bett zu treffen, aber schwierig, das Bett mit einem Anderen auf längere Zeit zu teilen. Oder wie es Luhmann formuliert: «Die Tragik liegt nicht mehr darin, dass die Liebenden nicht zueinanderkommen; sie liegt darin, dass sexuelle Beziehungen Liebe erzeugen und dass man weder nach ihr (der Liebe) leben noch von ihr loskommen kann.»

 

 

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