Verehrte Tischgemeinde

Ich werde meine Kurzrede in drei Teilen halten:
1. Eine Einschränkung des Themas: Anfang versus Neubeginn
2. Der Neubeginn im Alltag
3. Der philosophische tabula rasa-Traum


1. "Anfang" versus "Neubeginn"

Das Wort "Anfang" wird in vielfältiger Weise ausgesagt. Die Rede möchte nur eine bestimmte Bedeutung in den Fokus nehmen: den "Neubeginn". Der Neubeginn kann also als eine Untermenge vom umfangreicheren Anfang angesehen werden.
Folgende Facetten des Anfangs werden nicht thematisch, wären aber bestimmt auch von Interesse: Der Anfang einer Linie, der Anfang des Kosmos, der Anfang meines Lebens, der Anfang des Jahres 2000 (nicht so interessant) u.ä. Diese Anfänge haben gegenüber dem Neubeginn etwas gemeinsames: Sie sind ohne Vorgeschichte und von meinem Willen unabhängig, sie sind meinetwegen "geworfene" Anfänge. Die dazugehörenden Enden (was einen Anfang hat, hat auch ein Ende?) werden übrigens ebenfalls nicht in den Blick genommen. Der "Neubeginn" demgegenüber soll ein von mir gesetzter Beginn bedeuten. Er ist ein Akt der Freiheit. Er hat eine Vorgeschichte - darum "Neu-Beginn" - und genau von dieser Geschichte möchte er sich lösen.

Das Bild von der bedauernswerten Frau auf der Einladung zum heutigen Anlass passt hierher: Sie ist vielleicht zu einem Neubeginn gezwungen worden, insofern liegt also kein Akt der Freiheit ihrer Situation zugrunde. Doch der eigentliche Neubeginn steht ja erst bevor; sie wird nun eventuell das Bedürfnis haben, sich neu zu orientieren und ein neue Existenz beginnen. Dieser Entschluss zum Neuanfang ist dann doch ein feierlicher Akt der Freiheit. Das dornige Thema "Freiheit" möchte ich nun aber verlassen. Die Differenz zwischen dem vom mir gesetzten Neubeginn, welcher die Vergangenheit hinter sich lassen will, und dem allgemeineren Anfang sollte zur Genüge herausgeschält worden sein.


2. Der Neubeginn im Alltag

Als ich einen guten Anfang der Rede suchte, kam mir eine Fernsehwerbung zu Hilfe. Ein Shampoo wirbt da mit dem Slogan: "Schöne Haare sind der Anfang." Am ersten Teil anknüpfend wird mir da offenbar eine neue Existenz verkauft. Mit diesem Shampoo werde ich vom Kopf in Richtung Fuss schön, meine Karrierelinie knickt steil nach oben, in den zwischenmenschlichen Beziehungen werde ich erfolgreich etc. Verkauft wird mir ein Neubeginn mit Zukunftspotential - oder weniger blutleer: Mit dem Shampoo werde ich ein neues Leben beginnen und zwar so, dass ich auch noch auf dieser Basis aufbauen und Fortschritte machen kann. Das Motiv des Neubeginns gewinnt hier noch zwei Eigenschaften dazu: das Fortschrittsversprechen mit Verführungskraft und die nicht-Realisierbarkeit, den fiktionalen Charakter. Der Neubeginn oder im folgenden auch der "tabula rasa-Traum" ist wahrlich verlockend: Das Alte vergessen, endlich einmal sauber von Vorne anfangen, um mit kleinen aber sicheren Schritten vorwärtszukommen. Ich gebe im folgenden drei Beispiele des tabula rasa-Traums, ihr werdet bestimmt eigene ergänzen können:

A. Die katholische Beichte verstehe ich in diesem Licht: Der Gläubige möchte neu beginnen und wird notwendig wieder in der Sünde verstrickt - trotzdem ist so eine Beichte natürlich sinnvoll, meine Nichtkritik des Neuanfangs wird gegen Ende noch greifbarer.

B. Wie einige von euch wissen, bin ich in der Informatik-Branche tätig. Auch da träumen wir manchmal den tabula rasa-Traum: Endlich einmal den ganzen alten Schrott, der langsam und teilweise unzuverlässig ist, abschaffen und von Grund auf ein sauberes Konzept durchdenken und mit modernen Sprachen das dann realisieren. Der fiktionale Charakter holt uns da aber auf zwei Arten wieder ein: 1. Tabula rasa in der Informatik würde einen Rückschritt in die primitivsten Programmiersprachen bedeuten, ja eigentlich dürfte man gar nichts brauchen, sondern von 0 und 1 her beginnen. Das Jahr 2000-Problem ist übrigens in dieser Thematik verstrickt: Man konnte nicht genau wissen, was tief unten läuft, darauf wurde stets aufgebaut und weiter gearbeitet. 2. Tabula rasa in der Informatik ist ein Traum, weil das saubere theoretische Konzept die Realität abbilden soll. Dieser Bezug zur Realität bedeutet aber Veränderung im Laufe der Zeit. Im besten Fall genügt das Konzept zehn Jahre lang, dann aber ziehen neue Wünsche und notwendige Systemanpassungen unvorhergesehene Erweiterungen nach sich. Diese waren aber nicht konzipiert, sie "verschmutzen" das Konzept und das Basteln beginnt.

C. Das dritte Beispiel ist gleichzeitig der dritte Teil der Kurzrede: Der tabula rasa-Traum in der Philosophie.


3. Mein tabula rasa-Traum in der Philosophie

In der Philosophie ist der tabula rasa-Traum omnipräsent. Viele bedeutende, philosophische Bücher fangen gewissermassen "von Vorne" an. Endlich einmal eine verlässliche, wahre Grundlage schaffen, solchem Anspruch begegnet man in guten Philosophiebüchern. Die abzulehnende Vergangenheit, also die Vorgeschichte des philosophischen Problems, sind die älteren Schriften, eventuell sogar eigene. Konsequent wird dementsprechend in den ersten Kapiteln der alte Ballast über Bord geworfen - manchmal elegant und manchmal mit spürbarem Ärger.
Ballast können auch überlieferte Termini sein: Wörter, die mit soviel Bedeutungen angereichert wurden, dass der Autor oder die Autorin sie nur ungern verwendet, weil viele unzutreffende Bedeutungen mitschwingen. Unter anderem auch darum ist wohl die Philosophie eine so unerschöpfliche Quelle an Wortneuschöpfungen. Denn neue Wörter versprechen authentisch, ungeteilt und eigen, eventuell auch stärker zu sein.
Aus dem Wunsch, eine verlässliche wahre Basis der Erkenntnis zu gewinnen, wird jeweils eine eigene, neue Basis gefunden - die Alten haben ja keine vorgelegt. An diese je eigene Basis kann man dann glauben oder auch nicht. Sie ist jedenfalls nicht objektiv einsichtig, nicht wahr, sondern mit vielen vorhergehenden Prämissen gespickt.
Das nächste Buch zum Thema wird wieder neu beginnen und das vorhergehende vom Sockel stossen. Der Fortschritt kann nur noch subjektiv erlebt werden, er ist nicht ein Weiterkommen in den Fragestellungen.

Nun, ich muss hier einmal innehalten und bedenken, ob ich nicht mein bestimmtes Philosophiebild in diese armen Bücher, die sich jetzt nicht verteidigen können, nur hineinprojeziere. Tatsächlich gibt es in der jetzigen Bücherflut wohl kaum ein philosophisches Buch, das ernsthaft eine wahre Basis der Erkenntnis zu kennen propagierte. Und wenn es eines gäbe, würde es überhaupt wahrgenommen werden?
Ich möchte nicht für einfache Bücher plädieren, die naiv und unkritisch, ohne ein Studium wenigstens der Klassiker, ihre eigene Basis setzen. Aber ich trauere ein bisschen der Zeit nach, in der ein Buch noch gute Furore machen konnte. Gibt es heute neu beginnende, mutige und unbescheidene, und doch humane Bücher, welche auf intelligente Weise eine Grundlagendiskussion initiieren?
Offenbar kenne ich einfach zuwenig. Würde ich mehr lesen, ich würde wohl fündig werden. Die Zukunft wird hoffentlich in unserer Zeit auch einen guten Klassiker finden oder "erfinden", der verwegen den feierlichen Neubeginn träumt.

 

 

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