Wer ist der Anfänger heute? Wer beginnt den heutigen Abend? Wer macht den Anfang?

So einfach diese Fragen sich jetzt auch beantworten lassen - ist es doch offensichtlich, dass ich in meinem Sprechen diesen Anfang gerade eben gemacht habe - waren eben dieselben Fragen noch wenige Augenblicke zuvor schlicht unbeantwortbar.

Bevor ich die Frage "Wer ist der Anfänger heute?" mit einem Sprechakt in die Welt gesetzt hatte, war nämlich noch nicht sicher, dass ich es sein würde, der dies tun wird. Es hätte ja sein können, dass ich mein Leben auf dem Weg hierhin unter einer Strassenbahn verloren hätte, oder dass die zur Zeit in Zürich tobende Grippeepidemie mein Sprachorgan ausser Kraft gesetzt hätte. Dann wäre es nicht bloss anders gekommen und hätte sich die Antwort auf die Frage geändert weil jemand anders begonnen hätte, nein, es wäre auch verborgen geblieben, auf welche Anwort diese Frage abzielen würde weil die Frage vermutlich gar nie gestellt worden wäre.


Das ist aber noch nicht alles. Selbst wenn ich jetzt hier stehe, und wirklich begonnen habe, wird die Sache nicht einfacher. Denn jede Einleitung, und so auch diese, entsteht ja nicht von selbst sondern muss - möglichst gewissenhaft - vorbereitet werden. Und in dieser Vorbereitung war nicht von Anfang an klar, dass die Frage "Wer ist der Anfänger heute?" den Anfang der Einleitung ausmachen würde. Ich habe vielmehr ständig an diesem Anfang herumgebastelt und ihn weiss Gott wieviele Male umgestellt.


"Hier dürfte es nötig sein, präzisierend festzuhalten, dass etwas immer nur mit Bezug auf ein Ende oder Ziel Anfang ist. Zwischen diesen beiden, Anfang und Ende, besteht ein unauflöslicher Zusammenhang." Sagt Gadamer. Und so einleuchtend das auf den ersten Blick auch scheinen mag, so schwierig wird es bei näherem Besehen. Denn Gadammer scheint mit seienr Aussage in einen Begründungsnotstand zu kommen. Wenn er behautet, dass etwas immer nur mit Bezug auf ein Ende ein Anfang sein kann so sagt er damit auch, dass der Anfang nicht für sich allein stehen kann. Dass er also selbst abhängig ist von einem Anderen. Er benötigt nämlich einen Bezug zu einem Ende oder einem Ziel. Man könnte hier kurzschliessen und sagen: Ohne Ende kein Anfang. Oder: Ohne Huhn kein Ei, bzw. umgekehrt, bzw. man kennt ja das Problem.


Doch aufgepasst! Sagt er wirklich, dass es das Ende ist, von dem der Anfang abhängig ist? Nein, er behauptet: zwischen Anfang und Ende besteht ein unauflöslicher Zusammenhang. Damit ist der Anfang also abhängig von einem Zusammenhang, einer Relation. Wie aber soll das gehen? Und was soll das für ein Zusammenhang sein, der früher ist als der Anfang?


Um dieser etwas unfairen Interpretation etwas Gegensteuer zu geben, könnte man versuchen mit Heidegger etwas mehr Lichtung zu schaffen: "Der echte Anfang ist als Sprung immer ein Vorsprung, in dem alles Kommende schon übersprungen ist, wenngleich als ein Verhülltes." Das Schöne an Heidegger ist ja, dass er mit seiner Sprache keine Unklarheiten aufkommen lässt. Zumindest nicht darüber, dass jedes Wort bedeutungsvoll ist. Insbesondere ist daher zu beachten, dass er vom 'echten' Anfang spricht, und nicht also von irgendeinem beliebigen und zwar von einem echten Anfang 'als Sprung' und also nicht vom Anfang als einer rein örtlichen, zeitlichen oder logischen Bestimmung! Ohne hier nun in eine Heideggerinterpretation abzudriften, kann man aber sicher behaupten, dass Heideggers Zitat zur Frage nach dem Anfang mit der Betonung des Anfangs als Handlung - nämlich als Sprung - tiefer geht als die blosse Feststellung einer Beziehung zwischen Anfang und Ende.


Wir werden heute Abend anfangen. Anfangen zu essen, anfangen zu reden, anfangen zu hören, hoffentlich anfangen zu diskutieren über den Anfang, Gott und die Welt, und wer wann was geschaffen hat. Und wenn Gadammer mit seiner These recht hat, dann werden wir irgendwann auch wieder aufhören.

Ich bedanke mich.

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