Der Tod, verehrte Anwesende, verlangt eine kurze Rede. Geht es doch darum, was wir mit der uns verbleibenden Zeit anfangen. Die Antwort ist klar: Philosophie. Eine andere Frage ist, ob eine solche Rede todernst sein muss. Diese Rede wird es jedenfalls sein.
Ich kürze also meine Rede und beanspruche die Lizenz des Philosophen zur steilen These (1): Der Tod ist in der Philosophie ein Kristallisationspunkt. Wie Kristalle sich um kleine Verunreinigungen bilden, so ist Philosophie der Versuch, an die Irritation des Todes systematische Gedanken heranzubauen.
Ich werde diese These nicht beweisen. So kurz vor der Nachspeise geht das nicht an; Beweise sind schwer verdaulich. Vielmehr werde ich andere Thesen widerlegen. Ich folge damit dem Rat von Pyrrhon und verwende Thesen, wie man Abführmittel verwendet (2): man nimmt das Mittel ein, das Mittel wirkt und mit der Wirkung wird das Mittel zugleich wieder ausgeschieden.
Fragt sich nur, in welcher Darreichungsform wir das Mittel jetzt einnehmen wollen.
Das Originalprodukt aus dem Hause Plato (3), für das die Einladung zu dieser Rede wirbt, ist wegen seiner Nebenwirkungen auf die Lebensdauer der Seele nicht unbedenklich. Auch eine Klistierkur in der Schwarzwaldklinik kommt nicht in Frage; das wäre unappetitlich und es ist erwiesen, dass es der Gesundheit schadet.
Thomas Bernhard hat eine Rede, die zu halten ihm naturgemäss unmöglich gemacht worden ist, mit folgender These begonnen: "Wenn wir der Wahrheit auf der Spur sind, ohne zu wissen, was diese Wahrheit ist, die mit der Wirklichkeit nichts als die Wahrheit, die wir nicht kennen, gemein hat, so ist es das Scheitern, es ist der Tod, dem wir auf der Spur sind."(4)
Also: Die Wahrheit ist die Spur zum Tod. Auch hier folge ich Pyrrhons Rat und nehme gleich die Gegenthese dazu: Der Tod ist die Spur zur Wahrheit.
Wie aber hängen Tod und Wahrheit zusammen? Zusammenhänge zwischen was genau?
Eine Kaskade von Divisionen zeichnet sich ab: Tod als Substantiv, Tod als Person, Tod als Ereignis, Tod als Zustand, Tod als Eigenschaft, Tod als Privation, Tod als Motiv, Tod als Trieb.(5) Wonach sollen wir fragen? Was wissen wir über den Tod?
Nun, wir wissen nicht, was der Tod ist. Wir wissen nichteinmal, wann genau er eintritt:
Wenn das Herz tot ist? Wenn Hirnströme ausbleiben? Wenn die Fingernägel nicht mehr wachsen? Es kann kaum noch erstaunen, wenn wir auch nicht wissen, ob wir, wenn wir tot sind, nun leben oder tot sind.
Der Tod ist kein klarer und deutlicher Begriff. Nicht nur zeigt Epikur (6) Bemerkung auf der Einladung, wie dunkel er ist - verworren ist er ohnehin. Was wir über den Tod wissen, ist einzig das, dass er eintreten wird. Man könnte geradezu definieren: Der Tod ist dasjenige Ereignis, von dem wir wir nicht wissen, was es ist und doch wissen, dass es eintreffen wird.
Um dem Tod philosophisch auf die Spur zu kommen, brauchen wir also eine Theorie, die dieses Wissen erklärt. Damit wechseln wir die Spur von der Wahrheit zur Vernunft. Von der einen Rille in die andere, vom Hit zum Remix.
Wer vernünftig ist, weiss, dass sein Leben in den Tod führt. Plato empfiehlt dem Weisen, so zu leben, als wüsste er, dass er das weiss. Man kann natürlich auch so leben, wie wenn man wüsste, dass man es nicht weiss. Wer der Meinung ist, das Wort "Tod" bezeichne eigentlich eine Fehldiagnose der heutigen Ärzte, der kann einen Wechsel ziehen auf die medizinische Entwicklung und sich einfrieren lassen.(7) Vergessen Sie einfach nicht, bei der Anmeldung anzukreuzen, ob sie whole body suspension wünschen, oder ob sie zufrieden sind, wenn man Ihren Kopf einfriert. Die Kosten eines solchen Unternehmens beweisen jedenfalls eines: Es ist kein Paradox, dass die Aspiranten auf die Unsterblichkeit, mehr als Gewöhnlich-Sterbliche davon überzeugt sind, dass Ihr Leben sie zum Tod führen wird. Wozu denn sonst der ganze Aufwand?
Zugegeben, das ist keine besonders philosophische Frage. Popper würde mir darin hemmungslos zustimmen. Unermüdlich attakiert er diejenigen, die von der Tatsache, dass alle Menschen sterben müssen, so beeindruckt sind, dass sie sich fragen, ob es auch vernünftig sei, das zu glauben. (8) Wer glaubt, er sei sterblich, nur weil es keine unsterblichen Menschen gibt, ist für Popper ein Opfer der "Kübeltheorie des Geistes"(9): Was heute im Mülleimer landet, wird auch morgen darin zu finden sein. Also kann aus keiner Theorie folgen, dass es vernünftig ist, mit dem Tod zu rechnen. Die Kübeltheorie des Geistes lässt sich offensichtlich ohne Probleme zur Mülltonnentheorie der Philosophiegeschichte erweitern.
Die Philosophiegeschichte wiederum hat dies an Popper gerächt und ihm den Zutritt zum distinguierten Kreis der philosophischen Kanibalen verwehrt.(10) Zum Kreis derjenigen, die glauben, dass alles was ist, essbar ist - vorausgesetzt, die sauce stimmt.
Allerdings, Poppers Theorie ist auch ihre eigene Widerlegung. Wenn er empfiehlt, die Tatsache, dass alle Menschen sterben müssen, nicht so ernst zu nehmen, so wird man fragen dürfen, weshalb er hier von einer Tatsache spricht. Vorausgesetzt, das Geleugnete kann vorausgesetzt werden, kann an jeder Überzeugung gezweifelt werden. Vernünftig ist sie deshalb noch nicht.
Die Frage ist aber nicht, ob es vernünftig ist, davon überzeugt zu sein, dass das eigene Leben mit dem Tod endet. Wenn jemand davon überzeugt wäre, er sei unsterblich, könnten wir ihn nicht verstehen. Vielmehr fragt sich, was Vernunft heisst, wenn wir aus der Erfahrung wissen können, dass wir sterben werden.(11) Dies ist zum Glück auch eine logische Frage, so dass wir immerhin sagen können, was unvernünftig wäre.
Manche Überzeugungen sind unwahrscheinlich, andere können unmöglich richtig sein. Wir dürfen uns auch nicht dadurch beirren lassen, dass das, was wir glauben, auf vielfache Weise ausgesagt wird. Wir lernen zwar nur aus der Erfahrung, aber wir müssen trotzdem mit allem Möglichen rechnen.
Dies ist - in verdauliche Form gebracht - Carnaps Rekonstruktion der Disposition zur vernünftigen Überzeugung.(12)
Der Kristall wächst - die Irritation bleibt.
Wir wissen nicht was der Tod ist. Wir wissen nur, dass wir es wissen werden.
Dass wir es gewusst haben werden.

Ich danke Ihnen.

--------

(1) Hermann Lübbe: Politik und Religion nach der Aufklärung, Vortrag an der Universität Zürich, 9.9.1998.

(2) Diogenes Laertios: Leben und Lehre der Philosophen. Stuttgart, 1998, Reclam, IX.76.

(3) "Nämlich diejenigen, die sich auf rechte Art mit der Philosophie befassen, mögen wohl […] nach gar nichts anderem streben, als nur zu sterben und tot zu sein." Phaidon 64a (Übers. von Friedrich Schleiermacher. In: Sämtliche Werke. Hamburg, 1981, Rowohlt.)

(4) Thomas Bernhard: Der Wahrheit und dem Tod auf der Spur. Zwei Reden. In: Neues Forum, 15 (1968), S. 440.

(5) Vgl. Fritz Mauthner: Wörterbuch der Philosophie. Neue Beiträge zu einer Kritik der Sprache. Zürich, 1980, Diogenes, Artikel [Tod].

(6) "Das allerschrecklichste Übel, der Tod, geht uns also gar nichts an, weil er nicht ist, wenn wir sind, und wir nicht mehr sind, wenn er ist." Diogenes Laertios: Leben und Lehre der Philosophen. Stuttgart, 1998, Reclam, X.125.

(7) Alcor Foundation: http://www.alcor.org

(8) "Das falsche Problem - das Problem der Rechtfertigung der Induktion - wird von Leuten aufgeworfen, die von der 'Gleichförmigkeit der Natur' beeindruckt sind: von der Tatsache, […] dass alle Menschen und Tiere sterben müssen" Karl R. Popper: Objektive Erkenntnis. Ein evolutionärer Entwurf. Hamburg, 1974, Hoffmann und Campe, S. 113.

(9) loc. cit.

(10) Popper schreibt: Heutzutage weiss jeder, dass der logische Positivismus tot ist. "Aber anscheinend kommt niemand darauf, hier die Frage zu stellen: 'Wer ist der Täter?' […] Ich fürchte, dass ich mich als Täter bekennen muss." Karl R. Popper: Ausgangspunkte. Meine intellektuelle Entwicklung. Hamburg, 1979, Hoffmann und Campe, S. 121.

(11) "Von allen Gattungen weiss die menschliche allein, dass sie sterben muss, und sie weiss es nur durch die Erfahrung." Voltaire: Dictionnaire philosophique. Bd. IV, S. 63. Zit. nach. Paul Ludwig Landsberg: Die Erfahrung des Todes. Luzern, 1937, Vita Nova, S. 115.

(12) Rudolf Carnap: Inductive logic and rational decisions. In: Rudolf Carnap; Richard C. Jeffrey (Hrsg.): Studies in inductive logic and probability. Volume I. Berkeley etc., 1971, University of California Press. Bd. 1, S. 5-31.

Joomla templates by a4joomla