Da wohl einige Leser die Oper nur vom Hörensingen her kennen, versuche ich in den folgenden Zeilen zwar ein etwas spezielles, vielleicht auch eigenwilliges Licht auf das Verhältnis von Oper und Tod zu werfen, beschränke mich aber der Einfachheit halber auf 10 Opern, um so wenigstens etwas Bodenhaftung zu bewahren. Da man einen Aufsatz solcher art nicht ohne Musikbeispiele verstehen kann, ist eine Diskografie angefügt.

Der Tod und die Oper oder Sterben um gelebt zu haben

In der mehr oder weniger ersten Oper der 400-jährigen Operngeschichte, sicher die erste mit wirklich dramatischem Atem, war der Tod fast schon überwunden. Man stelle sich vor, wie es mit dem Genre mit dieser Auferstehung weitergegangen wäre: nämlich gar nicht. Orfeus Blick zurück machte 1607 bei der Uraufführung von Claudio Monteverdis "Orfeo" die Opernauferstehung zunichte, versetzte Euridice den zweiten Todesstoss, ermöglichte tausend neue Tode.

Bei der Betrachtung des Phänomens Tod in der Oper kann man leicht Klischees verfallen. Im Zentrum der Gedanken stehen schnell einmal Männer, beziehungsweise Tenöre, die sich das Schwert in den Bauch gesetzt haben, dann 10 Minuten lang in den höchsten Tönen singen, obwohl sie damit meist nichts mehr zur Handlung beitragen, ganz abgesehen davon dass sie am Verbluten sind. Auch was vorher ging, motivierte diesen Tod keineswegs direkt. Allein der männliche Stolz (die Oper kennt noch den Macho!), die Angst vor der Demütigung oder der Wunsch mit der Geliebten zu sterben, deren Tod zwingend und - wichtig - musikalisch vorbereitet war, treiben sie zur Tat. Edgardo folgt in "Lucia di Lammermoor" Lucia (sie starb im Wahn), Otello in Verdis "Otello" der Desdemona. Diese hier auf Männer reduzierten Eigenschaften treten manchmal auch auf Frauen zu, so beispielsweise auf die Sängerin Tosca, die in der gleichnamigen Puccini-Oper ihrem Cavaradossi in den Tod folgt.
Keiner dieser Folge-Tode ist an sich entscheidend. Genauso wie die bei Vorhangfall "entseelt" Sterbenden - oft Wagners Lösung der (inkonsequenten) Finali - könnten sie genauso gut weiterleben. Doch gerade die singend Sterbenden wurden von Verdi oder später den Veristen unsterblich gemacht, weil diese Männer beziehungsweise Frauen erst dann so richtig loslegen, bevor der endgültige Plumpser folgt.

Man merkt schnell, woher all die Opernklischees herkommen: aus dem italienischen 19. Jahrhundert. Doch gerade im 19. Jahrhundert, gerade aus der Feder Verdis, Puccinis, Donizettis stammen Opern, in deren Zentrum der Tod steht, deren Primär-Handlung sich nur um das eine dreht: den Lebens-Endzweck "Tod". 1787 wird Mozart - er schreibt gerade am "Don Giovanni" (seiner einzigen Oper, in der der Tod im Mittelpunkt steht - an seinen Vater schreiben:

"da der Tod (genau genommen) der wahre Endzweck unseres Lebens ist, so habe ich mich seit Jahren mit diesem wahren, besten Freunde des Menschen so bekannt gemacht, dass sein Bild nicht allein nichts Schreckendes mehr für mich hat, sondern recht viel Beruhigendes und Tröstendes! Und ich danke meinem Gott, dass er mir das Glück gegönnt hat, mir die Gelegenheit zu verschaffen, ihn als den Schlüssel zu unserer wahren Glückseligkeit kennen zu lernen."

Zurück zu den Todesopern:
Etwa Puccinis "La Boheme", Verdis "La Traviata" oder Donizettis "Lucia di Lammermoor".
Mimi in "La Bohème" hustet schon vor ihrem ersten Ton. Rudolfo verliebt sich trotzdem in sie: ein typischer Mitleidseffekt. Die weihnachtliche Party im Pariser Strassenkaffee ist Seelenbalsam, der Lunge schadet sie: ihre Tuberkulose ist spätestens im zweiten Akt als eine offene zu bezeichnen. Fast der ganze letzte Akt gehört der Sterbenden.
Auch Violetta, genannt "la Traviata", taumelt schon im ersten Akt, die Syphilis schwächt. Die Liebe der Prostituierten zu Alfredo blüht trotzdem auf, der Körper zerfällt. Der 3. Akt ist ein grosses Lamento. Opern, in denen die Primadonna dem Wahnsinn verfällt, hatten gegen 1830 Konjunktur. Lucia (di Lammermoor) ist solch ein bemitleidenswertes Geschöpf aus Schottland. Vom Bruder geplagt, vom Geliebten vermeintlich getäuscht, vom Ehemann - ja was denn? - jedenfalls erdolcht sie ihn in der Hochzeitsnacht, dann darf sie endlich ihr Lied vom Tod singen: 17 Minuten Raserei. Diese 17 Minuten gehören ihr, sind ihr Sterben, sind das Zentrum dieser Oper. Eine Oper die danach noch mit dem bereits beschriebenen Selbstmord des Geliebten, Edgardo, weitergeht.
Man kann selbstverständlich einwerfen, dass der Wahnsinn dem Komponisten Donizetti nur dazu führte, wahnsinns Töne zu komponieren. Auch wenn dies so ist: die Oper drängt zu dieser Wahnsinnsszenen, die eine Sterbeszene ist. Der Wahnsinn kommt nicht von ungefähr, schon im ersten Akt zeigt er sich in wilden Visionen.
Ein anderer Einwurf, dass hinter der den Tod umrahmenden Liebe, kein grosse Geschichte lauert, ist viel berechtigter. Denn schliesslich ist es die Liebesgeschichte, die Lucia (und Edgardo) in den Tod reisst. Nun, die angestrebte und gefundene Ewige Liebe führt uns zum vollkommensten, zum Inbegriff des Operntods. Nur ein Operntheoretiker wie Richard Wagner, der gleichzeitige einer der grössten Opernpraktiker war, konnte Liebe und Tod so genial, so untrennbar miteinander verknüpfen, dass sie eins wurden: zum Liebestod.

Isoldes Ende in "Tristan und Isolde" - ewiges, aber für sie so beglückendes Ende - dauert 25 Minuten, doch eigentlich fünf Stunden. Eine neue Dimension von Sterben tritt da ein, eine Todesart, die so fern ist der reisserischen, der rührenden oder pseudo-tragischen der italienischen Opernkomponisten. Doch wenn auch nach Monteverdis Orfeo 1607 der Tod beinahe überwunden worden wäre, und bei Wagners "Tristan und Isolde" 1865 in einem traumartigen Lustschrei endete, konnten in der Opernwelt neben all dem Geschrei in den Verismo-Opern, zwei weitere Opern entstehen, in deren Zentrum unabweisbar der Tod steht. Das von Mahlers Gigantismus, dem Kitschisten Klimt und Triebbeobachter Freund bestimmte Wiener Umfeld der Jahrhundertwende war der Nährboden dieser Tat: Richard Strauss komponierte seine Salome (1905) und Elektra 1909.

In Salomes Schlussgesang erleben wir eine todessehnsüchtig rasend Verliebte. Liebe und dann Sterben - mehr nicht. Doch hier geht dieser Drang über das Halten des eiskalten Händchens hinaus und wir sehen auf offener Bühne, was RTL erst letzte Woche das erste mal zeigte: Sex mit einem Toten. Die Vereinigung hören wir "nur", denn Salomes Geliebter fehlt ja bekanntlich der Leib. Allein die süssen Lippen des enthaupteten Jochanaans wird Salome vor unseren Augen liebkosen. Typischerweise kennt dieses lustvolle körperliche geniessen den Liebestod mit sogenanntem entseelten Dahinsinken nicht: Salome wird von den Wachen erschlagen - ihr kann dies egal sein. Nach dem kleinen folgt der grosse Tod.
"Salomes" Schwesternwerk von genauso neuer unheimlicher Melodik und Dramatik ist "Elektra". Hier findet die Vater- und Bruderliebe ihren Höhepunkt im von Elektra bejubelten Abschlachtens der Stiefmutter und ihres Freiers. Und hier sehen wir, dass der Tod nicht nur mit der erfüllten oder nicht erfüllten Liebessehnsucht zusammenhängt, sondern auch ganz einfach mit Erfüllung des Rachewunsches. Was übrigens auch in Verdis oft spöttisch betrachteter Handlung seiner Oper "Il Trovatore" Antrieb zu drei Stunden rasender Musik ist. Womit wir einen wichtigen Punkt berühren: die Antwort auf die Frage, was den das musikspezifische, das operneigene dieser Geschichte bzw. Geschichten ist. Nun, die Musik, ihre zunehmende Verdichtung erlaubte erst das ins Zentrum stellen dieser Todesarten. "Trovatore" ist ohne Töne, als nur gesprochenes Bühnenstück, undenkbar, erst mit der Musik entsteht eine Todeswegbegleitung.

Der Tod auf der reinen Sprechbühne ist uns doch unterdessen etwas sehr Fremdes geworden. Wer hat denn in den letzten zehn Jahren mit einer der grossen Shakespeare-Figuren, mit Lear etwa, mitgelitten, ist mitgestorben? Wer zittert bei Phädras Ende? Wer liest überhaupt noch Racine? Heute fliesst auf den Bühnen das Blut kübelweise, Pulp Fiction hat im Theater Einzug genommen. In unserer lärmigen Welt muss selbst der Tod laut und spektakulär sein. Doch in der Oper - unabhängig ihrer Inszenierung - lenkt die Musik zum Tod. In Oper, bei denen der Tod der Endzweck bildet, von Anfang bis zum Schluss.
Die ersten Takte von Mozarts "Don Giovanni", die Geschichte eines getriebenen Frauenverführers, schiessen aus der Hölle hervor, 3 Stunden später lenken sie Don Giovanni hinunter. Auch das erste zarte Geigenflimmern in "La Traviata" oder der erste Schlag in "Elektra" schlägt diese Brücke. Doch dazwischen wird in den grossen Werken in der Partitur viel mehr passieren. Don Giovanni hetzt von einer Nacht in die nächste, eine einzige Arie lang gönnt ihm Mozart Ruhe, doch Don Giovanni ist selbst auf dieses Karussell aufgesprungen: Sein Tod inszeniert er (und Mozart) wie kein zweiter: Musik spielt auf - man spielt unter anderem Mozart! - der Fasan ist saftig, der Wein fliesst, der Tod klopft an, die Musik drängt. Wer will da zu Molière zurück?

In den Noten der Komturszene, dem Don Giovanni-Finale, liege der Schlüssel zu seinem Werk begraben, hat Richard Wagner 80 Jahre nach Mozarts Tod, gesagt. Einem Tod aus übersteigertem Liebestrieb setzt Mozart seinem Don Giovanni den Höllentod drauf: der Pessimismus siegte. Im Gegensatz dazu erlöst Wagner die sich nach Liebe Sehnenden in seinem "Tristan" endgültig. Nachdem gemordet wurde - auch, diese für uns nicht relevante Todesart gibt es naturgemäss in der Operngeschichte - und die Rahmenhandlung fertig ist, wird Isolde ihre Arie mit dem Thema Liebe, wie wir es aus der barocken Opera seria kennen, singen und in reinster Liebe sterben.

"In dem wogenden Schwall,
in dem tönenden Schall,
in des Weltatems
wehendem All
ertrinken
versinken
unbewusst
höchste Lust!

Isolde sinkt wie verklärt auf Tristans Leiche. Grosse Rührung und Entrücktheit unter den Umstehenden, wie es im Textbuch heisst. Der Vorhang fällt langsam.
Und so mancher Opernfreund sinkt wie verklärt in den Samt, wird Tage später behaupten, dass Isolde weniger vor Liebe als vielmehr vor Verzücken der Musik stirbt. Vom musikalischen Tod in der Oper wird er sprechen...Doch halt! Orfeus knallte 1607 seine Leier weg, irrte blind hinweg bis ihn die Mänäaden zerrissen (bei Gluck, bei Haydn wiederholt). Einzig sein Gesang, seine Noten, hätten uns den musikalischen Tod bringen können. Es sei denn, jemand wird uns Orfeus aus der Unterwelt holen: Doch wir hoffen heimlich, dass auch diese Person zurückschauen werde, und wir nicht um tausend schöne Tode beraubt werden! Orfeus ist uns für immer verschwunden, der Liebestod hat über den Tod der Klänge gesiegt.

Unter uns: in musikalischen Sternstunden, wenn la Divina oder la stupenda sangen, dann meinte man, dass sie nicht von einem Dirigenten geführt wurden, sondern an der Hand von Orfeus schritten.

 

Diskographie

C. Monteverdi, Orfeo, Nikolaus Harnoncourt, Decca

W. A. Mozart, Don Giovanni, Carlo Maria Giulini, EMI

G. Donizetti, Lucia di Lammermoor, Maria Callas, C. M. Giulini (live 1955!), EMI oder Studio: Serafin, Callas, Gobbi, di Stefano

G. Verdi -La Traviata, Pritchard, Sutherland, Bergonzi, Decca/ Kleiber, Cotrubas, Domingo, Deutsche Grammophon oder live-Mitschnitte mit R. Tebaldi (1956!! Mit Giulini) und Maria Callas (Giulini 1955 EMI) -Trovatore, Karajan, Corelli, Price, Simionato, Bastianini, 1962, Deutsche Grammophon

G. Puccini -Tosca, de Sabata, Callas, di Stefano, Gobbi, EMI -La Bohème, Serafin, Tebaldi, Bergonzi, Decca

R. Strauss -Elektra, Solti, Nilsson, Decca oder Böhm, Borkh, Deutsche Grammophon. -Salome, Solti, Nilsson, Decca; Schlusszene mit Ljuba Welitsch (!!), leider ist mit ihr keine Gesamtaufnahme vorhanden

R. Wagner: Tristan und Isolde, Böhm, Nilsson, Windgassen, Deutsche Grammophon

 

 

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