Eigentlich sollte ich ja hier eine Heimatrede halten, aber, so möchte ich erinnern: wir feiern heut eigentlich den Nationalfeiertag. Wir feiern heute die Nation Schweiz, unsere Nation ..."
Doch auch ich werde in dieser Nationalfeiertagsrede, die feierlich auf die Nation bezogen anhob, schon im zweiten Satz auf die Heimat einschwenken; denn die Nation als rechtlich-politisches Ordnungsgebilde lässt sich nur sehr schwer feierlich schmücken. Insbesondere die schweizerische Nation, die bekanntlich eine Willensnation ist: ein rationales Gebilde. Einmal im Jahr aber soll dieses versinnlicht werden: mit Fahnenschwenken und Alphornblasen, mit Feuerwerk und den üblichen 1.-August-Utensilien mit weissem Kreuz auf rotem Grund.
Natürlich besinnen sich heute nicht alle Schweizerinnen und Schweizer auf die Heimat; viele geniessen nur einfach den offiziell zum Feiertag erklärten freien Tag, der wie so viele andere in den Sommer fällt. Viele sind daher auch gar nicht in der Schweiz, sondern ferienhalber im Ausland - wo sich die Heimat erfahrungsgemäss sehr viel exklusiver feiern lässt. Im Ausland, d.h. ausser Landes wird die Heimat erst so richtig als Ort des Eigenen, der Geborgenheit empfunden: als "s'heimet", wie die Ur-Schweizer sagen - wobei sie darunter nicht so sehr das Vaterland, schon gar nicht die Nation, sondern ihr Bauerngut bzw. ihr kleines Bauerngut verstanden: "s'Kueh-Heimet(li)".

Danach sehnt sich, wer Heimweh hat - gut, vielleicht heute nicht mehr; ursprünglich aber richtete sich das Heimweh als eigentlich schweizerische Erfindung auf "s'Kueh-Heimetli". Die Franzosen nannten dieses süss-schmerzliche Ziehen "la maladie suisse", gelegentlich auch "le hemwé", dessen auffälligste Opfer zu jener Zeit die Schweizer Söldner waren. Es geht die Sage, dass keine Waffe sie in die Flucht zu schlagen vermochte - beim Klang der Alpenlorelei "le ranz des vaches" aber brachen die Söldner zusammen bzw. in Tränen aus, wie Rousseau zu berichten weiss:

Brief über die Schweiz von Jean-Jacques Rousseau (1763)
Es ist wirklich einzigartig, dass die Bewohner eines so unwirtlichen Landes, die eben deshalb so geneigt sind es zu verlassen, gleichzeitig eine so zärtliche Liebe für es empfinden. Die Trauer darüber, es einmal verlassen zu haben, führt sie zum Schluss doch fast alle dorthin zurück, und denen, die nicht zurückkehren können, fügt sie eine manchmal tödliche Krankheit zu, die sie, glaube ich, "le hemvé" - Heimweh nennen.
Es gibt in der Schweiz eine berühmte Weise, die "le ranz des vaches" heisst, welche die Hirten auf Ihren Alphörnern spielen und die sie in allen Teilen des Landes erklingen lassen. Diese Weise, die an sich nichts Besonderes ist, die aber bei den Schweizern tausend Erinnerungen an ihre Heimat weckt, lässt sie wahre Tränenströme vergiessen, wenn sie sie in einem fremden Land hören. Sie liess sogar eine so grosse Anzahl vor Kummer sterben, dass auf Befehl des Königs verboten wurde, den "ranz des vaches" bei den Schweizer Truppen zu spielen.

Erklärt wurde diese ur-schweizerische Krankheit im 18. Jahrhundert physiologisch -als "Sehnsucht nach klarem Firnenwind" - aber natürlich auch in romatischer Manier: die Helvetier waren halt einfach in ihr "kropfichtes [bergiges] Heimat" und ihre Kühe vernarrt. Die "fremden Fötzel" mochten darüber spotten, die Eidgenossen liessen sich nicht beirren: die "Kue Blüemli" tritt schon im Sempacherlied als ihr anerkanntes Sinn-bild auf.
Solcherart Sinn- und Heimatbilder bedarf jede Nation - dies wird zumindest, mit Ausnahme etwa der Vertreter des "Verfassungspatriotismus", allgemein angenommen: jede Nation bedarf einer Nationalhymne, einer Nationalflagge und eines offiziellen Feiertags. Einen solchen sollte auch das neue Bosnien haben - die Serben und Bosnjaken feilschten hart um dieses Datum, niemand aber hätte vorgeschlagen, einfach darauf zu verzichten: man einigte sich schliesslich auf den Tag der Unterzeichnung des Abkommens von Dayton, den 14. Dezember.
Die Nation braucht solche Gründungsdaten - besser noch sind Gründungsmythen: ein mythopoetischer Unterbau, den Meinrad Inglin sehr treffend als "volkhafte Grundkraft" beschrieben hat - die, wir wissen es, wesentlich xenophob ist. Denken wir etwa an die Blut- und Bodenmythen (das Amselfeld in Kosovo), die sich als Abwehr- und Kampfphantasien massenwirk-sam politisch mobilisieren lassen. Wenden wir den Blick wieder auf die Ur-Schweiz, so sehen wir, wie sich dazumal die waldstätter Kühe gegen den Berner Bär wandten - und wie sich noch heute das Volk der aufrechten Bergler gegen alle anderen wendet.
Dieses Bewusstsein des Wir, das als Ich gegen alle anderen auftritt, lässt sich aber auch positiv fassen: indem es gefühlsmässig als Eigenes, Eigentliches empfunden wird, wird für den einzelnen zum Sinn dessen, wofür es sich lohnt, ein politisches Engagement zu riskieren: das Bewusstsein der Heimat sozusagen als Quelle des Willens zur Nation - die ihrerseits die Heimat rechtlich absichert: die Nation verknüpft das Ur-bedürfnis nach einem Ort der Zugehörigkeit mit der Idee des Rechts und erhebt die Heimat so zu einem berechtigten Anspruch. Darf ich diesen Gedanken kurz explizieren? Wir alle sind heimatberechtigt, niemand darf uns willkürlich die Staatsangehörigkeit entziehen, wir stehen als schweizerische Rechtssubjekte auch im Ausland unter dem rechtlichen Schutz der Schweiz.
Diese rechtliche Daseins-Garantie gewährt auch das supranationale Europa seinen Bürgerinnen und Bürgern; umgekehrt jedoch ist fraglich, ob sich diese zu einem gemeinsamen Untergrund, einer "volkhaften Grundkraft" bekennen können, die dieses Konstrukt zu tragen vermöchte. Kann Europa zur Heimat werden? Kann die Welt Heimat sein? Nun, den Europäern und erst den Schweizern, wir wissen's, fällt die Antwort darauf sehr schwer - nicht so sehr dagegen den Philosophinnen und Philosophen, wenn man Novalis glauben will, der die Philosophie als Trieb beschreibt, "überall zu Hause zu sein".

***

"... oh, la vache!" - würde nun hier ausrufen, wer ein Welscher, eine Welsche wär - "so endet eine Nationalfeiertagsrede doch nicht!!"
Diese hier schon - nämlich mit em Kueh-Heimetli im Herzen, der Nation als Willensobjekt, Europa als Nachbar und der Welt als idealer Heimat.

 

 

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