Der neue Film von David Cronenberg heisst "eXistenZ". Dieser Titel ist in zweierlei Hinsicht merk-würdig: Es ist erstens ein sehr schriftlicher Titel; im Wort eXistenZ ist das X und das Z gross geschrieben, während das Wort mit einem kleinen "e" beginnt. Ich kann Ihnen also den Titel mündlich gar nicht vollständig vermitteln. Zweitens ist der Titel nicht nur als synchronisierter Import, sondern schon in seinem kanadischen Ursprung deutsch. Sofort denkt der geneigte nordamerikanische Kinogänger an die grossen deutschen Existenz-H’s (Hegel, Hölderlin, Heidegger), und der geneigte tischreden-addict denkt ans heutige Thema: "Was ist?" Wie schon Marianne Hänseler, ein weiteres grosses "H" der Philosophiegeschichte, gesagt hat, "schließlich befinden wir uns hier in einem gewissen Kreise", so dass ich mir erlaube, die enge Beziehung des Seinsbegriffs zum Existenzbegriff als nachvollziehbar vorauszusetzen.

Im genannten Film Cronenbergs ist eXistenZ ein Spiel. Es ist eine virtuelle Realität, ein Szenario, in das man eintritt, indem man sich mittels eines sogenannten bioports in eine intersubjektiv verbundene biologische Software einloggt. Das klingt visionär, aber ich muss darauf hinweisen, dass der bioport ein klaffendes scheussliches Loch ist, das einem irgendwann im Verlaufe der Pubertät mit einer riesigen futuristischen Druckpistole in den Rücken geknallt wird. Die Intersubjektivität wird mittels einer darm-artigen Schlange gewährleistet. Beim eXistenZ-Spiel ist man demnach mit seinen Mitspielern von Rücken zu Rücken über eine Art Darm verbunden. Wir haben ja schon gegessen. Auf jeden Fall weiss ich seit jenem Film, weshalb es im Kino nur Popcorn – und nicht etwa Schweinebraten – gibt.

Man kann sich Cronenbergs Pointe leicht ausrechnen. Vor lauter Virtualität weiss am Schluss niemand mehr, welches die Realität ist. Welches unsere Realität ist. Am Schluss weiss der Kinogänger nicht mehr, welches seine Realität ist. Ein total alter Hut also, das ganze. Postmodernes Feuilleton-Futter.

Interessant ist also nicht dieser Gestus, ist nicht der Plot des Films, sondern der Hauptsatz des Filmes – einer Sonate ähnlich, deren Plot keinen müden Hund hinter dem Ofen hervorzulocken vermag, weil er stets gleich ist. Der Film, wie eine Sonate, lebt im Grunde von einem Satz. Der lautet nämlich, und man hat ihn sich als gierig und fordernd und verführerisch von einer eXistenZ-Spiel-süchtigen Jennifer Jason Leigh geflüstert vorzustellen, "Let’s play eXistenZ!".

Meine Damen und Herren, "Let’s spielen wir Existenz? Spielen wir hier und jetzt Existenz? Ja, werden Sie schreien, und die Hysterie wird gross sein, Ja, nur: wie?

Nun, es mag Sie schockieren, wenn ich Ihnen jetzt mitteile: Schon vorbei. Game Over. Wir haben schon gespielt. Wir haben schon Existenz gespielt, und Sie alle haben mitgespielt mit mir. Es war mein Spiel, ich bin heute Abend Ihr grosser Bruder – Big Brother - , und ich teile Ihnen nun, da es zu spät ist, mit, in welchem Spiel sie unwissentlich figurierten.

Wir alle haben gegessen, und doch war nichts so, wie Sie es sich vorgestellt hatten. Sie dachten sich vielleicht, es wird gegessen werden, und es wird gesprochen werden, genauer: philosophiert. Allenfalls dachten Sie, es würde philosophisch gegessen werden: d.h. abwesend dreinschauen, gedankenverloren kauen, dem Tischnachbarn nur halb zuhören und den Geschmack des Essens für akzidentell halten.

Nun, sie haben tatsächlich gegessen. Dafür kamen Sie schließlich her. Dafür haben Sie auch bezahlt. Aber Sie haben auch mitgespielt. Sie spielten mit mir Existenz. Nun werden Sie einwenden, jaja, wir haben gegessen, aber wir haben doch nicht Existenz gespielt, und parallel dazu reibe ich mir die Hände, grinse teuflisch und wiege Sie in sanfter Paranoia, indem ich Ihnen versichere, doch mitgespielt zu haben.

Das Essen ist nicht nur Nahrungsaufnahme und Energiezuführung. Es ist auch nicht nur ein sozialer, kultureller oder gar intellektueller Akt. Ein wesentlicher Aspekt des Essens ist ontologisch. Dazu ein wenig Theorie.

Folgen wir Freud [Die Verneinung, Stud. Ausg.III], so waren wir zunächst reines Lust-Ich. Das Lust-Ich muss man sich als eine Art Amöbe vorstellen, die nichts anderes tut, als Lust anzustreben und Unlust zu vermeiden. Zu diesem Zweck verschlingt das Lust-Ich alles, was es für gut hält, und spuckt alles aus, was es für schlecht hält.

Die Probleme beginnen dann, wenn dem Lust-Ich das planlose Probieren zu dumm wird. Konkret sollte auch das dämlichste Baby irgendwann lernen, die Mutterbrust von einem Autoauspuffrohr zu unterscheiden, ohne experimentell daran saugen zu müssen. (Karl Popper hat das übrigens bis zu seinem Ende nicht geschafft! Er saugte und saugte und beschönigte das Ganze, indem er es "falsifizieren" nannte.). Das intelligente Baby aber erinnert sich also an die Brust, gewinnt eine Vorstellung der Brust und konstituiert die Brust als primäres Objekt.

Das funktioniert gut, bis das Baby an seinen ersten Brei herantritt. Natürlich wird es sich sofort an die Brust erinnern und sich den Brei merken und ihn als Objekt konstituieren. Um dann seine erste Depression einzufangen: Wenn der Brei nämlich gegessen ist, ist er nicht mehr da. Im Gegensatz zur Brust, die von den Damen später sogar eigens nachgebaut wird, während sie uns Männern in der Vorstellung als primäres Objekt bis zum Tod erhalten bleibt. Der Brei jedenfalls, der in der Vorstellung existiert, in der Realität aber nicht, bringt das Lust-Ich ins Wanken und bringt, so Freud, eine erste Frustration, dann die Realitätsprüfung und das Real-Ich ins Spiel.

Anders gesagt: Der aufgegessene (oder im Gesicht verschmierte) Brei läutet die Ontologie ein. Denn nun, wiederum gemäss Freud, entwickelt das Real-Ich Ersatzhandlungen für das Fressen und Spucken. Als Ersatz für das Fressen können erwachsene Menschen nämlich einem Ding Existenz zuschreiben, als Ersatz für das Spucken sprechen wir Existenz ab. Es ist das Urteil, das über Existenz und Nicht-Existenz entscheidet. Es ist die Bejahung, das bejahende Urteil, im Grunde eine Ersatzhandlung fürs Essen, welches unsere Leit Frage "Was ist?" beantwortet.

Was also existiert, ist im Prinzip essbar. Was wir bejahen, obwohl wir es nicht essen können, bejahen wir nur aus Mitleid oder aus einer Zivilisationskrankheit heraus. Demnach ist Gastronomie die einzig wahre Ontologie. (Und die Brust das einzig wahre Objekt, aber wir wollen Woody-Allen-Zitate vermeiden.)

Natürlich kann ich das Ganze beweisen. Wenn tatsächlich der enge Zusammenhang zwischen Essen und Ontologie besteht, so muss das kulturell belegbar sein. Ich habe also Norbert Elias‘ "Über den Prozess der Zivilisation" durchforstet, und wohlan, ich wurde fündig (Bd.I, 212). So heisst es in einer "Civilité", einer Verhaltens- und Tischregel aus dem 16. Jahrhundert (1560):

"Die Art des Kauens ist je nach den Orten oder Ländern, in denen man sich aufhält, verschieden. Denn die Deutschen kauen mit geschlossenem Mund und finden es hässlich, anders vorzugehen. Im Gegensatz dazu öffnen die Franzosen den Mund halb und finden die Vorgehensweise der Deutschen etwas abstossend. So hat jede Nation eine Eigenheit, die sie von den übrigen unterscheidet."

Nun, ich sehe: Sie sind von Evidenz erschlagen. Das spätmittelalterliche Kauen determiniert präzise die aufklärerische Philosophie! Wenn Ontologie ein Ersatz fürs Essen ist, was anderes ist dann der deutsche Idealismus als ein Kauen mit geschlossenem Mund? Alles, was ist, ist in meinen Gedanken. Nichts ist ausserhalb. Mund zu und durch. Oder, wie Hegel sagte, "der Geist ist ein Knochen". Der Geist springt dort ein, die Philosophie erhebt sich dort, wo wir uns die Zähne ausbeissen. Beim Knochen. Und man kann leicht von der Eule der Minerva schreiben und dabei an einen fetten Fasan denken! Ersatzhandlungen, alles Ersatzhandlungen.

(Übrigens, das am Rande, versuche ich in einem kleinen Forschungsprojekt gerade mittels Heideggers Spätwerk nachzuweisen, dass Hannibal Lecter aus The Silence of the Lambs seine Mitmenschen mit geschlossenem Mund gekaut haben müsste.)

Ganz anders die Franzosen. Der Mund bleibt da nämlich offen. Das Innen bleibt gegen das Aussen transparent, die Inklusion unvollständig. "Der grosse Andere" bleibt, zwischen den Zähnen hindurch, im Horizont. Ökonomisch gesprochen: Die Angst, das Gekaute wieder zu verlieren, ist gering. Diese spezifische Dialektik von Speichel und frischem Sauerstoff, von Eigen und Fremd, von Innen und Aussen, wird in unseren Tagen übrigens lobenswerter Weise vom Personal in Akte X fortgesetzt: The Truth is Out There. Man muss das klar sehen: Hegel hätte in dieser Serie die Hauptrolle nicht übernehmen können, ohne in ontologische Gewissensbisse zu geraten.

Leider sind in der Civilité die Engländer nicht erwähnt, aber aufgrund der bisherigen Ergebnisse können wir leicht den Umkehrschluss ziehen und das englische Kauen im Spätmittelalter aufgrund der englischen Ontologie der Aufklärung rekonstruieren: Die englische Philosophie gilt natürlich als Empirismus, d.h. alles kommt durch die Sinne von aussen. Es dürfte in diesem Sinn am englischen Mittagstisch keine eigentliche Kau-Phase, keine Kau-Phase, die ja immer eine orale Reflexionsphase darstellt, gegeben haben; vielmehr dürfte die englische Nahrungsaufnahme von einem beständigen Input, einem dauernden Saugen geprägt gewesen sein. Man kann deshalb wohl davon ausgehen, dass der mittelalterliche Engländer aus ontologischen Gründen vor allem getrunken haben dürfte, und dies insbesondere, ohne die Flasche abzusetzen.

Nun, was hat dies alles mit uns zu tun? Wir haben Existenz gespielt, indem wir assen. Was ist, ist ein möglicher Eintrag auf einer Speisekarte. Natürlich können wir darüber quantifizieren! Dieser Anlass hier – trinken, reden, essen, reden, essen, reden, usw., ist ein mikroskopischer Zivilisierungsakt. Eine repräsentative Realitätsprüfung. Eine modellhafte Menschwerdung. Indem wir Existenz spielen, machen wir explizit, was es heisst, nicht zu essen, indem wir zwischen den Gängen über das Sein sprechen.

(Für Robert Brandom-Kenner: Damit ist übrigens auch Brandoms Rauschebart erklärt: Der macht nämlich das Essen selbst explizit, indem er es – qua Essens-Reste - sichtbar konserviert.)

Hier bei den tischreden essen wir nicht nur nicht, sondern wir thematisieren präzise unser Nicht-Essen. Dies ist aber nicht von einer chauvinistischen Fortschrittsideologie geprägt, d.h. wir feierten nicht einfach unkritisch unseren Weg von der Mutterbrust ins Philosophische Seminar, denn stets zwischendurch wurden inszenierte Rückfälle in die Animalität gepflegt. Wir haben nicht zuerst gegessen und dann ontologisiert. Wir haben gegessen, anschliessend die Realitätskonstitution ontologisch explizit gemacht und das Verdrängte zum Sprechen gebracht, und dann innerhalb einer expliziten Ontologie -- wieder gegessen. Das Ganze, damit es nicht zu abendländisch wird, in der Repräsentation und zürcherischen Domestizierung einer Region, die gerne das Unbewusste Europas genannt wird: in einem orientalischen Restaurant. Und ich war glücklich, zu sehen, das fast alle unter Ihnen auch ein Zeichen der Toleranz setzten , indem Sie mit dem halboffenen Mund der französischen Aufklärung kauten. Die Totalitaristen unter Ihnen – my mouth is my castle - mögen sich wenigstens beim Dessert Mühe geben.

Danke.

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