Verehrte Philosophinnen und Mitesser

ich habe das Vergnügen den zweiten Block der Tischreden am heutigen Abend zu eröffnen, und das ist ein Vergnügen, insbesondere deshalb, weil ich davon ausgehen kann, dass meine Gedanken nicht demselben unglücklichen Schicksal meiner Vorredner anheimfallen werden, auf den noch nüchternen Magen zu schlagen. Inwieweit sie allerdings auch dazu geeignet sind, Bauch- und/oder Kopfschmerzen zu verursachen, wird sich dann wohl am Ende meiner Ausführungen weisen.
Vorweg aber vielleicht noch ganz kurz ein Wort zum Verhältnis von meiner Person zu dieser Tischrede. Ich bin ja nicht Urs und auch nicht Grob. Und ich gelte daher wohl gewissermassen als Lückenbüsser, und das stimmt zumindest im Hinblick auf meine Vorliebe für ethische Themen. Ich kann aber versichern, dass alles, was ich hier von mir gebe, nicht von Urs kommt und ihm deshalb auch nicht angelastet werden darf.
'Die richtige Lebenführung‘ das schreit gewissermassen und geradezu nach einer ‚Anweisung zu‘, nach einer Gebrauchsanweisung oder auch nach einer Unterweisung in jene Art von Lebenführung, die eben die richtige sei. Nur - und das ist das Übel und der Segen aller Philosophie zugleich - so einfach ist das nicht. Zunächst ist es in keiner Weise klar, was den eigentlich das Wort richtig‘ in diesem Zusammenhang bedeuten kann, mehr noch, was denn das Kriterium zur Unterscheidug zwischen richtig und falsch in Bezug auf 'Lebensführung‘ ausmachen könnte. Zudem ist es ebenso unklar, was denn 'Lebensführung‘ sei. Ist es der dumpfe Ausdruck dessen, was wir zwischen dem Aufstehen und dem Zubettgehen tun? Oder betrifft es das, was wir in dieser Zeit denken, wollen oder fühlen? Also das, was uns bewusst ist? Und wenn dem so ist, müssten dann nicht jene, die mehr schlafen als andere, gerügt werden, sie würden ihr Leben weniger und daher potentiell auch weniger richtig führen als Wenigschläfer? Auch könnte man sich fragen, ob denn der Ausdruck 'Führung‘ in diesem Zusammenhang nicht irreführend sei. Immerhin ist es ja nicht von Vornherein klar, was hier Geführtes und was zu Führendens sei beziehungsweise in welchem Verhältnis Führendens und Geführtes zueinander stehen. Wir könnten ja zum Beispiel auch alle an der Nase herumgeführt werden.
Wie dem auch sei, diesen Strang der Ungewissheit werde ich nicht weiterverfolgen. Er ist ja zum Teil schon von meinen Vorredner angesprochen worden und wird vielleicht in den beiden noch folgenden Tischreden tangiert werden. Ich will mich aber auf die Frage konzentrieren, inwiefern im Rahmen einer Ethik sinnvoll vom Richtigen und vom Falschen geredet werden kann. Mit anderen Worten geht es mir um die Frage, ob die Ethik einen Beitrag zu konkreten, praktischen - also gewissermassen 'echten' Fragen leisten kann. Fragen also wie zum Beispiel jener nach der richtigen Lebensführung. Um es gleich vorwegzunehmen: die Antwort auf die so gestellte Frage ist schlicht und ergreifend: nein, das vermag die Ethik nicht.
Natürlich habe ich hier und jetzt weder die ausreichende Kompetenz noch genügend Zeit diese Behauptung hieb- und stichfest zu machen, doch sollen zwei miteinander zusammenhängende Überlegungen dieses vielleicht als Provokation empfundenen Votums etwas näher beleuchten.

Grundsätzlich lässt sich die Ethik einteilen in eine normative, und das heisst in eine gesetzgebende Ethik, und in eine Metaethik, welche sich als Untersuchung der Gültigkeit von ethischen oder näherhin moralischen Sätzen bzw. Grundsätzen beschreiben lässt.
Was - so mein erster Überlegungsstrang - hat die normative Ethik zu bieten zu so brennenden Fragen wie der der aktiven Sterbehilfe, der Abtreibung oder eben der Frage nach der richtigen Lebensführung? Wie schon behauptet: Nichts. Doch weshalb? Nun, die Antwort darauf ist einigermassen banal: Versucht man im Dschungel der verschiedenen angebotenen Theorien eine Antwort auf eine solche Frage zu finden, so findet man eben nicht eine Antwort, sondern viele. So kann die zum Beispiel die Befürwortung der aktiven Sterbehilfe legitimiert werden durch das In-den-Vordergrund-Stellen der Würde des Menschen, die in gewissen Fällen nur noch mit dem Freitod erhaltbar sei. Dagegen können die Gegner oder Gegnerinnen der aktiven Sterbehilfe ebendieselbe Würde des Menschen als Beleg für ihre Überzeugung angeben, indem sie auf die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens hinweisen, das als höchstes Gut der menschlichen Kreatur oder gar der Natur an sich verstanden werden müsse.
Nicht weniger existentiell, aber durchaus gleich hilfreich ist die philosophische Antwort auf die Frage nach der rechten Lebensführung: während sich die einen auf schöngeistige, allgemeingültige goldene Reglen des pflichtbewussten Miteinanders berufen (wie es zum Beispiel Kant mit seinem berühmten kategorischen Imperativ macht), wissen andere – Utilitaristen genannte - wiederum Gründe vorzubringen, sich im Leben am Nutzen seiner Handlungen zu orientieren. Oder dasselbe in etwas verständlicherer, aber auch etwas ungenauer Sprache ausgedrückt: die einen sagen, es sei richtig, im Leben das zu tun, was ich auch von den anderen erwarten würde, während die anderen behaupten, es sei richtig, im Leben das zu tun, was mir (und eventuell auch den anderen) nützt. Was soll ich also nach Ansicht dieser zwei Normprinzipien zum Einsatz von militärischer Gewalt der NATO im Balkan denken. Was passt nach Ansicht der zuvor vorgestellten Normprinzipien zu einer richtigen Lebensführung?

Ist es: 'Der NATO-Einsatz ist falsch weil er der Ausdruck ener Aggression ist, die ich nicht gegen mich gerichtet sehen möchte',
oder ist es: 'Der NATO-Einsatz ist richtig, weil er die reichen Länder Europas vor machtsüchtigen Despoten schützt.'

Weil nun ein NATO-Einsatz nur ausgeführt oder nicht ausgeführt werden kann – mithin also digital ist –, können nicht beide Antworten logisch zugleich wahr sein. Und weil diese zwei Ansichten als Resultat zweier verschiedenen normativen Ethiken interpretiert werden können und sich in diesem konkreten Fall widersprechen, gibt es die Antwort der Ethik auf diese Frage überhaupt nicht. Daher kann von einem Nutzen der normativen Ethik bei der Beantwortung solcher Fragen nicht die Rede sein.

Wie steht es aber mit der Metaethik? Kann sie uns sagen, welchem der widerstreitenden Moralgesetze wir folgen sollen? Wiederum: Nein. Und die Begründung ist hier nicht weniger banal als die vorherige: Wenn ich zwei Systeme vorfinde – und das wären im vorliegenen Fall zwei verschiedene Normen miteinbezüglich ihres ausführlichen Begründungsapparates -, wenn also zwei einander widerstreitende Systeme vorliegen, dann muss das Kriterium zur Entscheidung zwischen den beiden ein Drittes sein. Was aber soll und kann – und das ist hier die Gretchenfrage –, was soll und kann ein solches Kriterum sein? Eine gute Frage, kann ich da nur sagen! Ist es Gott? Die Welt? Die Natur? Oder vielleicht doch eher der alles erschöpfende und alles beherrschende Rote Gulp? Es ist meines Erachtens leicht, zu sehen, dass man für jede dieser Antworten eine geeignete Theorie bauen kann, die in ihrer Plausibilität einem päpstlichen Dogma in keiner Art und Weise hintanstehen muss.

Was – liebe Mittesserinnen und Philosophen – lässt sich aus diesen kurzen Ausführungen schliessen? Was können wir gleichsam zum Behufe unseres Seelenheils mit nach Hause nehmen, wo doch die Philosophie so kläglich zu versagen scheint? Ich will dies mit einem Wort René Descartes formulieren das aus seinem wunderbaren Buch „Les passions de l’âme“ von 1649 stammt: „Et affin que nostre ame ait ainsi de quoy estre contente, elle n’a besoin que de suivre exactement la vertu.“ (Descartes, Adam & Tannery: 442). Oder wie dies Ludwig Wittgenstein in einem Anfall seiner ihm eigenen Genialität in den Philosophischen Untersuchungen übersetzt hat: „Denk nicht, sondern iss.“


Ich bedanke mich.

 

 

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